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  • Lida mit ihrer Enkeltochter Nané. (Foto: Martinez Sanchez/ «Kirche in Not (ACN)»)
  • Lidas Schwiegertochter schaut durch das Loch in der Decke in ihrer Behelfsunterkunft. (Foto: Martinez Sanchez/ «Kirche in Not (ACN)»)
  • Eine armenische Frau trauert um ihren im Krieg gefallenen Sohn. (Foto: Martinez Sanchez/ «Kirche in Not (ACN)»)

Armenien: Humanitäre Katastrophe um Bergkarabach

Am 6./7. Januar nach gregorianischem Kalender feiern viele Christen der Ostkirchen Weihnachten. So auch im Kleinen Kaukasus. Für viele Christen aus Bergkarabach ist es schon das zweite Weihnachten als Flüchtlinge. Seit September 2020 ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder aufgebrochen.

Der Waffenstillstand unter russischer Aufsicht ist brüchig, der Streit um die Region längst nicht beigelegt. Die Folgen der Kämpfe sind allgegenwärtig: Tausende Soldaten sind gefallen, über 90 000 Menschen mussten flüchten. Nur etwas mehr als ein Viertel von ihnen konnte bislang zurückkehren. Die Mehrheit der Flüchtlinge ist in Armenien gestrandet und kämpft dort ums Überleben. Staatliche Hilfen bleiben aus, auch viele Hilfsorganisationen haben sich zurückgezogen.

Unterschlupf in der Industriebrache
Mitarbeiter des weltweiten päpstlichen Hilfswerks «Kirche in Not (ACN)» haben sich vor Ort ein Bild gemacht und mit mehreren Flüchtlingsfamilien gesprochen. So auch mit der Familie von Lida. Sie hat in Artaschat Zuflucht gefunden, einer Kleinstadt im Dreiländereck zwischen Armenien, der Türkei und Aserbaidschan. Das Stadtzentrum liegt weit entfernt, lange, staubige Schotterstrassen führen durch verlassene Industrieanlagen – Relikte aus sowjetischer Zeit. Am Ende eines dieser Fabrikgrundstücke steht ein verlassen aussehendes Haus. Doch der erste Eindruck trügt.
In der Tür steht Lida, eine Frau mittleren Alters. Sie freut sich über den Besuch, sonst kommt kaum jemand vorbei. Ihre Schwiegertochter Mariam und Enkelin Nané sind bei ihr. „Unser Leben war gut in Bergkarabach“, erinnert sich Lida. Sie hat als Lehrerin gearbeitet. Seit Jahren ist sie verwitwet, zwei Söhne mit Familien lebten bei ihr.
Doch das änderte sich schlagartig: „Gleich am ersten Tag des Krieges haben sich meine Söhne zum Militär gemeldet. Sie sind 22 und 24 Jahre alt. Ich war allein mit meiner Schwiegertochter und der Kleinen.“ Dann kam der Krieg ins Dorf – aus der Luft wurde es beschossen und bombardiert. „Zuerst sind wir unter den Küchentisch gekrochen“, erzählt Lida. „Später haben wir uns im Keller versteckt. Strom und fließend Wasser gab es längst nicht mehr.“
Schliesslich hätte sie der Dorfvorsteher informiert, dass sie ihre Heimat verlassen müssen. Zunächst flohen sie in die Stadt Bedsor, wie viele andere Bewohner von Bergkarabach. Doch schon nach einer Woche mussten sie auch dort weg: „Wir sind in Bussen nach Armenien abtransportiert worden. Wir hatten nur einen Koffer dabei.“ Zuerst kamen sie in Artaschat bei Verwandten unter. Aber die Enge sei belastend gewesen, erzählt Lida. „Das war kein Dauerzustand. Seit einem halben Jahr leben wir jetzt hier, in diesem verlassenen Haus.“
Auch in der neuen Unterkunft gibt es weder Strom noch Wasser. In der Zimmerdecke klafft ein Loch, durch das man bis in den ersten Stock schauen kann. Für Esstisch, Stühle, Bett und Schrank mussten die beiden Frauen Schulden machen. „Wir müssen zusätzlich noch einen Kredit abzahlen, den wir in Bergkarabach aufgenommen haben. Die Bank kennt da keine Gnade.“

Wo staatliche Hilfen ausbleiben, springt die Kirche ein
Staatliche Hilfe in Höhe von umgerechnet etwa € 130 es nur vier Monate lang. Familien, die einen Angehörigen im Krieg verloren haben, bekamen eine einmalige Zahlung von rund € 18 000 . Glücklicherweise kamen Lidas Söhne unversehrt aus dem Krieg zurück, körperlich zumindest. Ihr Ältester, berichtet Lida, sei jedoch schwer traumatisiert und arbeitsunfähig. „Mein jüngerer Sohn hat jetzt wenigstens ein Job in einer Konservenfabrik gefunden. Aber er wird schlecht bezahlt. Den ersten Lohn hat er erst nach einem halben Jahr bekommen.“ Auch Lida versucht etwas zum Unterhalt der fünfköpfigen Familie beizutragen: Sie gibt Nachhilfeunterricht.
Wie in vielen anderen Krisenregionen greift die Kirche den Flüchtlingen unter die Arme, wo es kaum staatliche Hilfe gibt. Priester, Ordensfrauen und Mitarbeiter in den Kirchengemeinden leisten geistlichen und psychologischen Beistand, aber sie helfen auch ganz handfest: Sie organisieren behindertengerechten Wohnraum für Kriegsversehrte, helfen bei der Arbeitsplatzsuche oder besorgen Lebensmittel und Medikamente. «Kirche in Not (ACN)» finanziert zum Beispiel ein Nothilfeprogramm für 150 Familien in der Stadt Goris nahe der Grenze zu Bergkarabach.
Viele Flüchtlingsfamilien haben ihre Haupternährer verloren, auch wenn sie den Kriegseinsatz überlebt haben: Teilweise sind die Männer in Bergkarabach geblieben, um ihr Eigentum zu schützen oder sie durchlaufen Reha-Massnahmen nach dem Militäreinsatz. Manche Familienväter sind auch nach Russland gegangen und suchen dort Arbeit.
Tränen schiessen Lida in die Augen, als sie über die aktuelle Situation in Bergkarabach berichtet: „Eigentlich sollen wir zurückkehren. Aber es ist dort nicht sicher. Die an der Grenze stationierten russischen Truppen schließen im Zweifel die Augen. Unser Haus ist außerdem von Aserbaidschanern besetzt. Sie posten das ganz ungeniert auf Facebook.“ Das Leid der Flüchtlinge von Bergkarabach geht weiter – auch am zweiten Weihnachtsfest in Elend und Vertreibung.