Gedenkmauer für gefallene Soldaten, 2014 bis heute (Foto: ACN)

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Ukraine: „Der Krieg fängt in den Herzen an“

«Kirche in Not (ACN)» hat sich mit Bischof Pavlo Honcharuk der Diözese Charkiw-Saporischschja in der Ukraine bei seinem Besuch in der Zentrale des Hilfswerks über die Situation vor Ort unterhalten.

Im Gespräch hob der Bischof einer der grössten Diözesen Europas die Bedeutung der Seelsorge in einer Region hervor, die direkt an die russische Grenze grenzt und massiv unter Beschuss steht. Laut Medien habe Russland allein im Juni 2024 um die 700 Lenkbomben auf die zweitgrösste ukrainische Stadt Charkiw gerichtet.

 

Bischof Pavlo Honcharuk der röm.-kath. Diözese Charkiw-Saporischschja (Foto: ACN)

Bischof Pavlo Honcharuk der röm.-kath. Diözese Charkiw-Saporischschja (Foto: ACN)

Die Stadt Charkiwliegt nur 30 km von der russischen Grenze entfernt. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges ist sie regelmässig starkem Beschuss ausgesetzt und mittlerweile stark beschädigt. Können Sie uns die aktuelle Lage beschreiben?

Wir leben von Stunde zu Stunde. Raketen vom Typ S-300 sind innerhalb von 39 Sekunden von der russischen Seite aus in Charkiw. Zuerst schlägt die Rakete ein und dann folgt erst der Luftalarm, weil es so schnell geht. Alle, die bis zu 70 km von der Front entfernt leben, sind die ersten in der russischen Schusslinie. Aber in der Ukraine gibt es keinen sicheren Ort. Die Angriffe können überall stattfinden.

Der Luftalarm hier in Charkiw geht fast nonstop. Auch nachts stündlich. Manche Menschen trauen sich immer noch nicht vor die Tür. Es gibt sehr viele Selbstmorde, weil die Menschen nicht wissen, wie es weitergeht. Die Schulen und Kindergärten sind zu. Viele Kinder lernen unten in der U-Bahn-Station. Ich weiss von einer Lehrerin, die jeden Tag in einen benachbarten Ort fährt, wo sie WLAN hat, und von dort aus ihre Schüler online unterrichtet, die nun über 18 Länder verstreut sind.

Alles ist zerstört, die Menschen haben keine Häuser, keine Wohnungen… Ein 73-jähriger Mann kam zu uns, er hatte nichts bei sich. Wir haben ihm Kleidung gekauft. Zum Glück war er gerade beim Einkaufen, als die Rakete sein Haus traf. Aber alles ist weg.

Wie ist die Lage der Kirche vor Ort?

Ich habe eine sehr grosse Diözese, aber ein Viertel davon ist besetzt, und dort gibt es keine Priester mehr. Vor dem Krieg 2014 hatten wir 70 000 Gläubige in unserer Diözese. Heute sind es noch 2500.

Auch wenn alles hier instabil ist, so gibt es eine Sache, die sich nicht verändert: Wir müssen die laufenden Kosten bezahlen für Gas, Wasser, Strom, damit die Priester, die Ordensleute ihre Existenz sichern können. Die Gläubigen können uns nicht unterstützen, sie haben alles verloren. Deswegen danke ich «Kirche in Not (ACN)» auch aus tiefstem Herzen, dass Sie da sind und uns helfen. Priester und Ordensleute sind unersetzlich… Sie sind ein Zeichen der Stabilität und Sicherheit. Die Menschen sagen: Wenn ein Priester da ist, dann kann ich auch bleiben. Sie brauchen einfach nur unsere Anwesenheit. Die Einsamkeit ist sehr schwer zu ertragen, vor allem, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. 

Was ist die wichtigste Aufgabe der Kirche in dieser trostlosen Lage?

Unsere Mission ist, Christus und sein Wort zu verkünden. Das Gebet ist die grösste Waffe. Viele Menschen fragen: Wann geht der Krieg zu Ende? Es gibt keine Antwort. Aber wir dürfen nicht aufhören zu beten.

Genauso wichtig ist es aber auch, für die Menschen da zu sein, sie zu begleiten, ihre Last mitzutragen, mit ihnen zu beten, ihnen zu dienen. Und nach Mitteln zu suchen, die ihnen helfen, diese schwierige Zeit zu überwinden. Es geht nicht nur um materielle Hilfe, sondern auch um psychologische Hilfe. Es ist wichtig, dass ein Mensch versteht, was in ihm vorgeht, damit er sich nicht verurteilt, denn mit der Angst kommen auch Aggressionen. Das ist normal in Kriegssituationen. Man muss dann darüber sprechen. Wir haben wenig Spezialisten und Fachleute, und das ist ein Problem. «Kirche in Not (ACN)» hat eine psychologische Schulung für Priester, Ordensleute und Freiwillige in Bezug auf Kriegswunden unterstützt. Das ist so wichtig und wir sind sehr dankbar dafür!

Sie selbst waren einmal Militärkaplan und sind nun für alle Militärkapläne der katholischen Bischofskonferenz zuständig. Können Sie erklären, wie deren Arbeit aussieht?

Ein Militärkaplan kümmert sich um die seelsorgerische Betreuung der Männer an der Front, aber auch um deren Familien. Wir haben 46 Militärkapläne in meiner Diözese. Jeder junge Mann an der Front ist ein Einzelkämpfer. Er fühlt sich sehr einsam, denn er kann nur wenigen Menschen erzählen, wie es ihm geht. Einem Psychologen würde er sich nicht anvertrauen, weil er kein Vertrauen in ihn hat, und seiner Frau nicht, weil er sie schützen möchte. Was diese Menschen in ihrer Seele erleben, ist ein Alptraum. Deshalb ist ein Militärkaplan so wichtig. Er hört sich das an, was die Menschen auf der Seele haben. Man weiss oft nicht, was man sagen soll, man ist einfach nur da.

Der Krieg hinterlässt Schutt und Trümmer (Foto: ACN)

Der Krieg hinterlässt Schutt und Trümmer (Foto: ACN)

Beerdigung eines Soldaten (Foto: ACN)

Beerdigung eines Soldaten (Foto: ACN)

Welche Erlebnisse haben Sie besonders geprägt in letzter Zeit?

Sehr schwer ist natürlich, wenn ich Familien benachrichtigen muss, dass der Sohn oder Ehemann gefallen ist. Manchmal wird der Bischof gebeten, das zu tun…

Ein Erlebnis in einem Dorf nahe der Front hat mich besonders bewegt: Da ist eine Frau gestorben und wir wollten sie begraben, doch der lokale orthodoxe Priester meinte, das sei zu gefährlich. Ich bin trotzdem hingefahren. Die Menschen dort waren pro-russisch, sie wollten nicht mit uns sprechen und waren sehr aggressiv. Die Beerdigung fand im Keller statt, ohne Strom. Ich habe Kerzen verteilt. Es waren ungefähr 10 Menschen. Sie haben mich angeschaut – ich habe in leere Augen gesehen und habe Gänsehaut bekommen. Es war dunkel und es war so schwer. Der tote Körper lag da, aufgebahrt. Bevor ich für die Tote gebetet habe, begann ich zunächst, für die Menschen zu beten, die vor mir waren: ‚Lieber Gott, bitte komm in die Herzen der Menschen hier…‘ Als wir hochkamen, habe ich die Menschen endlich bei Tageslicht gesehen, sie haben geweint. Die Frau, die zu Beginn die aggressivste gewesen war, bat mich darum, noch einmal zu beten. Ich fragte sie, warum. Da meinte sie: „Als Sie gebetet haben, wurde mir so leicht ums Herz.“ Die anderen haben es bestätigt. Sie haben meine Worte des Gebets wiederholt. Gott hat ihre Herzen angerührt. Bei diesen Menschen ist der Krieg zu Ende. Denn der Krieg fängt in den Herzen an und er endet dort.

Viele haben Charkiw verlassen aufgrund des ständigen Beschusses. Haben Sie selbst schonmal mit dem Gedanken gespielt, die Stadt zu verlassen?

Nein, ich bleibe. Das hier ist mein Platz. Die Menschen vor Ort brauchen mich. Sollte ich Charkiw verlassen, dann mit dem allerletzten Auto.

In der lateinischen Diözese Charkiw-Zaporizhzhya hat «Kirche in Not (ACN)» seit letztem Jahr Nothilfe für Ordensleute, Sonderhilfe für 25 Pfarreien, als auch Wärmepumpen für verschiedene Pfarreien und für die Kurie finanziert. Darüber hinaus hat das Hilfswerk Mess-Stipendien zur Verfügung gestellt. Ausser der psychologischen Schulung für Priester, Ordenspersonen und Volontäre hat «Kirche in Not (ACN)» Erste-Hilfe Kästen für Priester und Schwestern, die an gefährlichen Orten tätig sind, finanziert.

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